Die verzauberte Jungfrau von Winterscheid

In den malerischen Gefilden von Winterscheid, ganz nahe des ehrwürdigen Rennenberges, spielte sich vor langer Zeit eine bemerkenswerte Geschichte ab. Diese Sage, überliefert aus dem Volksmund und von Lehrer Rosenthal in Köln niedergeschrieben, erzählt von einem jungen Bauernburschen, der sein Schicksal unwiderruflich veränderte.

Es war ein sonniger Tag, und der junge Mann pflügte unermüdlich sein Ackerfeld entlang des Waldrandes. Plötzlich durchbrach eine zauberhafte Melodie die Stille der Natur. Der Gesang war so lieblich und melancholisch zugleich, dass er den Bauernburschen sofort in seinen Bann zog. Ohne zu zögern, ließ er Pferd und Pflug zurück und folgte dem Klang in den dichten Wald.

Tief im Herzen des Waldes, in einer kleinen Lichtung, saß eine bezaubernde Jungfrau auf einem moosigen Stein. Ihr Gesang klang so betörend, dass der junge Mann wie verzaubert innehielt. Erst als die Jungfrau ihm freundlich zuwinkte, näherte er sich zögerlich und setzte sich zu ihren Füßen ins Gras.

Die Jungfrau berichtete ihm von ihrem tragischen Schicksal. Vor vielen, vielen Jahren sei sie verzaubert worden, aber morgen sei die Stunde der Erlösung gekommen. Sie fragte den jungen Mann, ob er bereit sei, sie zu befreien. Als Belohnung versprach sie, für immer sein eigen zu sein und ihn reich und glücklich zu machen. Der Bauernbursche willigte freudig ein und versprach, alles zu tun, um sie zu befreien.

Doch die Jungfrau warnte ihn vor der Aufgabe, die ihn erwartete. Am nächsten Tag sollte er an derselben Stelle erscheinen, aber sie würde nicht in ihrer jetzigen Gestalt, sondern als hässliche Schlange auftreten. Diese Schlange würde sich um ihn winden, und er müsste den Mut haben, sie zu küssen. Nur durch diesen mutigen Kuss könne sie von ihrem Fluch erlöst werden.

Obwohl der Gedanke an die Schlange den Bauernburschen ängstigte, versprach er, mutig zu sein. Am nächsten Tag, zur festgelegten Stunde, fand er sich am vereinbarten Ort ein. Doch als die Schlange aus dem Gebüsch hervorkam und sich vor ihm aufrichtete, übermannte ihn die Furcht. Er wandte sich abrupt ab und rannte davon.

In diesem Moment hörte er einen schrecklichen Schrei und die verzweifelte Stimme der Jungfrau, die sagte: “Deine Feigheit verurteilt mich erneut zu hundert Jahren meines schrecklichen Schicksals.” Der junge Mann blieb erschüttert stehen, doch die Schlange war verschwunden. Er sah die Jungfrau nie wieder, und seine Sehnsucht nach ihr verzehrte ihn.

Quelle: “Bergische Sagen, 2. Auflage” von Otto Schell, erschienen 1922.

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