Heinz Hütlein aus Siegburg – Ein Zwerg mit großen Taten

Heinz Hütlein war ein drei Spannen langes, munteres Wesen. Übrigens wohlgestaltet, sah er nur sehr alt von Angesicht aus, was bei der kleinen Gestalt sich sehr unheimlich anließ, wenn man ihn zuerst erblickte. Sein munteres Wesen jedoch, seine Schalkhaftigkeit, Freundlichkeit und Geselligkeit ließen dies bei längerer Bekanntschaft bald übersehen.

Die Mönche zu Siegburg samt ihrem Prälaten erlebten gar manche Freude an ihm. Es war unter dem strengen Prälaten Diether von Drachenfels, als sich der alte Zwerg in der Küche der Abtei häufig sehen ließ, wo es gerade an einem Küchenjungen fehlte, zu dessen Verrichtungen sich das Bergmännlein anbot. Wie seltsam auch solcher Antrag dem Koch vorkommen mochte, so war er ihm doch sehr willkommen, und die Geschäftigkeit, Die Willfährigkeit und Hurtigkeit des kleinen Dieners setzten ihn bald in die Gunst der ganzen Küchendienerschaft.

Auch außer der Arbeitszeit machte er sich verdient, indem er für Zahnschmerz, Husten und andere Leiden seiner Gönner Rat wusste, verdrehte Schlüssel zurechtbog, verlorene Sachen aufsuchte und manche Schnurre zum besten gab. Auch die Mönche hörten ihm oft zu und belohnten ihn mit süßen Leckerbissen. Durch seine Kenntnis des Lateinischen stieg er noch mehr in ihrer Achtung.

Da konnte es nicht fehlen, dass er auch mit dem strengen Prälaten bekannt wurde; in dessen Gunst hatte er es in kurzer Zeit so weit gebracht, dass er aus- und einging in der Prälatur, als ob er des hochwürdigen Abtes Stubengenosse gewesen sei. Er ging ihm auch bei den wichtigsten Dingen trefflich zur Hand. Er wusste auf alle Fragen Auskunft zu geben.

Ja, als der Prälat einmal in einem gefährlichen Handel mit dem Landesherrn, dem Herzog Adolf von Berg, verwickelt war und zu dessen Schlichtung zu Köln ein Fürstenrat zusammenberufen wurde, fertigte der kunstgewandte Zwerg aus mancherlei Kräutern einen Ring, welcher die Eigenschaft besaß, dass der, welcher ihn trug, die geheimsten Gedanken seiner Feinde zu durchschauen vermochte. Diesen Ring schenkte er dem Prälaten, dem es durch dessen Eigenschaften gelang, auf dem Fürstentage jenen Handel so vorteilhaft zu beenden, dass er sich für den Gönner und Schützer des dienstfertigen Zwerges erklärte.

Der Abt trieb seine Gunst so weit, dass er ihm eine Laienbruderskutte fertigen und ihn förmlich als Ordensmönch einkleiden ließ. Bisher hatte er sich nur in bäuerlicher Tracht gezeigt, in kurzem Röcklein und großem Hut.

Den Hut legte er auch in der neuen Mönchstracht, die ihm sehr zu gefallen schien, nicht ab. Von diesem Hut nannte man ihn das Hütlein, oder mit Abkürzung von Heinzelmann: Heinz Hütlein.

Heinz Hütlein verkehrte aber auch mit den Bewohnern des Tales.
Gegen jedermann war er gefällig. Oft kam er sichtbar, mitunter auch unsichtbar, auf Gassen und Wege. Durch solches unsichtbare Umherschleichen und die gutmütige Dienstfertigkeit des Hütleins wurde besonders ein Kaufmann in der Stadt Siegburg auf die seltsamste Weise überrascht. Dieser Kaufmann, ein reicher, filziger Glatzkopf, hatte spät geheiratet. Sein junges, schönes, aber eher leichtfertiges Weib hatte um des Geldes willen den alten Kaufmann geheiratet. Daher verlautete von ihrem Lebenswandel nicht viel Gutes, denn sie suchte sich an anderer Jugend für das Alter ihres Glatzkopfes, wie sie ihren Gemahl zu nennen pflegte, zu entschädigen; oder sie ging, wie der gelehrte Abt Trittheim, der Erzähler dieser Sage, sich sprichwörtlich ausdrückt, mit dem einen Fuß gern im Wasser.

Der Kaufmann aber musste seines Geschäftes wegen oft monatelange Reisen machen, und solche Zeiten verträumte die leichtfertige Frau nicht einsam, was der Alte wohl ahnen mochte. Als er daher einst wieder eine längere Reise antrat, da befahl er die scheinbar tiefbetrübte Gemahlin scherzweise der Obhut des Zwerges Heinz Hütlein, indem er ihm beim Abschied zurief: „Heinz Hütlein, dir lasse ich während meiner Abwesenheit meine liebe Hausfrau empfohlen sein.“

Im Scherz hatte er diese Worte ausgerufen. Der stets dienstfertige Zwerg befand sich aber zufällig unsichtbar in der Nähe. Er fasste den Scherz völlig ernst auf und war sogleich bereit, jenem Auftrage nach besten Kräften gerecht zu werden. Sobald es dunkelte, stand der gewissenhafte Hüter auf der Treppe, welche zum Schlafgemach der Frau führte. Ein Gast, welchen sie geladen, ein junger Taugenichts, trippelte ganz lüstern heran. Mitten auf der Treppe aber stürzte er mit großem Gepolter hinab, dass die Frau sehr erschrak. Der junge Mann kam mit dem Schrecken davon. Seiner eigenen Unvorsichtigkeit den Fall schuld gebend, begann er aufs neue hinaufzusteigen. Der ob solcher Beharrlichkeit im Bösen ungehaltene Heinz Hütlein ließ ihn nun die oberste Stufe ersteigen; dort hielt er ihm einen Stab zwischen die Knie und versetzte ihm einen Stoß, dass er blutend und zerquetscht unten ankam. Der übel zugerichtete Bursche hinkte endlich im tiefsten Groll über die Frau, die ihn, wie er glaubte, also angeführt habe, nach Hause.

Um Mitternacht nahte ein anderer Bursche. Doch dieser kam schneller hinunter, als er hinaufgestiegen war. Mit Kopf und Beinen schlug er rollend an die Stufen. Seine Verletzungen waren bedeutend.
So ging es Nacht für Nacht. Die Frau lud immer neue Gäste zu sich ein; aber nahe vor dem Ziel wurde die Treppe für jeden verhängnisvoll. Das lüsterne Weib war bald als eine boshaftige Hexe verschrien, welche die mutwilligen Knaben durch allerlei Verführungskünste an sich lockte und dann auf grausame Weise abfertigte. Auch am Tage bewachte der Zwerg die seiner Hut Anbefohlene mit äußerster Sorgfalt. Es trat oder ging niemand ungestraft liebäugelnd an dem Hause des Kaufmanns vorüber, wo die Lüsterne am Fenster saß. Wer zur Seite schaute, stolperte über dies oder das, oder das Pferd wurde scheu, oder ein Dachziegel fiel herab. Auch die Buhlerin selbst ging nie aus dem Hause, ohne dass ihr ein Unfall begegnete. Die in ihren Erwartungen oft getäuschte Frau musste sich die Vereitelung ihrer Wünsche nicht anders als durch die Einwirkung eines neidischen Gespenstes zu erklären, und was sie früher nie getan, trat jetzt ein: sie sehnte sich nach ihrem Gatten. Der war aber noch mehrere Stunden von seinem Hause entfernt, als ihm Heinz Hütlein freudig entgegeneilte, und zwar in sichtbarer Gestalt.

„Gottlob, lieber Kaufherr!“ rief der Zwerg vor Freude; „gottlob, dass Ihr zurückkehrt und ich endlich von dem beschwerlichen Amte entbunden werde, welches Ihr mir auferlegt habt! Denn die wenigen Wochen, die Ihr entfernt wart, haben mir mehr Sorge gemacht, als mir sonst in mancher Jahresfrist nicht zugefallen.“

Den alten Herrn befremdete eine solche Anrede fast mehr, als der Anblick des kleinen Kuttenträgers, denn seines scherzweisen Auftrages hatte er längst vergessen. Von Heinz Hütlein hatte er zwar mancherlei vernommen, jedoch denselben niemals von Angesicht gesehen. Darum fragte er jetzt staunend, wer er sei und was es für eine Bewandtnis mit dem beschwerlichen Amt habe, von dem er gar nichts wisse.

„Weißt du, filziger Kahlkopf, nicht,“ entgegnete ihm der Heinzelmann, „dass du bei deiner Abreise, als du unter der Linde vor deinem Hause von deiner sauberen Ehehälfte Abschied nahmst, diese dem Heinz Hütlein zur Hut anbefohlen hast? Siehe, ich bin Heinz Hütlein, der das niedliche Weib mit Angst und Mühe aufs sorgsamste bewacht hat.
Das hat mir den Schlaf der Nächte vereitelt, so dass ich anderen Lohn von dir verdient hätte, als die Vergessenheit, mit welcher du mir begegnest.“ Dem alten Geizhals, der bei Lohn und Belohnung stets nur seiner Geldrollen gedachte, schlug eine solche Verpflichtung schwer auf die Seele. Doch griff er in den Säckel und fragte den Zwerg Heinz laut, wie tief er denn in seine Schuld geraten sei.

Da lachte der kleine Schelm und sprach: „Der Mühe des Zählens und der Pein des Zahlens magst du für dieses Mal überhoben sein; denn ich habe der Mühe viel mehr gehabt in eurem Dienste, als ihr belohnen könnt. Mein einziger Lohn sei der, dass ihr mich bei euren künftigen Reisen mit ähnlichen Aufträgen verschont, denn ein Nest junger Flöhe oder ein Teich voller Frösche ist leichter vor dem Heraushüpfen zu bewahren, als ein listiges, liebreizendes Weib in Ehren zu behalten; und viel lieber wollte ich alle Säue in ganz Westfalen hüten, als eine solche Vettel.”

Wie es dem alten Kaufmann dabei zumute geworden, mag man sich denken; dem Weibe aber soll es zur Belehrung gedient sein.

So hat Heinz Hütlein manchem Menschen große Dienste erwiesen.
Doch ließ er auch die den Bergmännlein eigentümliche Empfindlichkeit über zugefügte Beleidigungen manchmal gar übel zum Ausbruch kommen.
Das war auch die Ursache, weshalb er vom Berge des heiligen Anno vertrieben wurde.

Hauptsächlich war der Zwerg in der Klosterküche beschäftigt. Da fiel immer etwas für ihn ab. In dem später aufgenommenen Küchenjungen, dem Schwestersohn des Kochs, bekam er einen Nebenbuhler.
Vorwürfe, welche dem trägen Küchenjungen über sein Verhalten gemacht wurden, musste der gutmütige Heinz vielfach entgelten. Oft warf der boshafte Bube Kehricht, faules Gemüse und dergleichen nach dem Zwerge, was dessen Rache endlich herausforderte. Als eines Abends der träge Junge am Herdfeuer eingeschlafen war, und sich die übrige Dienerschaft schon zu Bett begeben hatte, nahm Hütlein die Gelegenheit zur Rache wahr und erwürgte den verhassten Quäler im Schlafe, warf ihn dann in den Rost des verglimmenden Feuers, wo sein Onkel, der Koch, am anderen Morgen den halbgebratenen Leichnam fand. Voll Schrecken lief dieser zum Abt. Hütlein wurde sofort der Tat verdächtigt, und der Koch suchte vom Abt zu erwirken, dass er ihm die Türe weise und keinen Mörder im Kloster dulde, das er durch solche tückische Mordtat geschändet habe. Doch der Prälat, eingedenk der vielen großen Verdienste, welche ihm der Zwerg geleistet hatte, ließ diesem seine Gnade zuteilwerden. Er gebot dem Koch, alles weitere Gerede über den misslichen Handel zu meiden, und ließ den gerösteten Buben, als einen durch eigene Unvorsichtigkeit Verunglückten, begraben. Der Koch hingegen, welcher, vom Abt bedroht, seine Blutrache unterdrücken musste, ließ den Zwerg heimlich seinen Groll empfinden. Alle für Hütlein bestimmten Speisen verunreinigte er auf abscheuliche Weise oder machte sie sonst ungenießbar. Da nahm sich der Zwerg vor, es dem Onkel zu machen wie dem Neffen. Er ergriff die Gelegenheit, dass der Koch sich oben auf der Klostermauer zum Brechen des Hauslaubes niederbückte, und stieß ihn hinab, dass er umkam. Das hatten aber viele Menschen gesehen, welche es dem Abt hinterbrachten. Dieser konnte nunmehr den Zwerg nicht länger in den Klostermauern dulden. Er ließ ihm den Richterspruch verkündigen, dass er sofort das Kloster verlassen müsse und nie mehr einen Fuß auf den Klosterberg setzen dürfe. Dazu wurde die Bannformel über ihn ausgesprochen, so dass dem Verbannten die Kraft genommen wurde, das Verbot des Abtes zu überschreiten.

Nie erschien der Zwerg wieder in der Abtei. Vor der Pforte derselben fand man jedoch am anderen Tage die ihm verehrte kleine Mönchskutte nebst den anderen Geschenken des Prälaten.

Quelle: Otto Schell, “Bergische Sagen, 2. Auflage (Montanus-Waldbrühl, Vorzeit I, S. 70)”, erschienen 1922.

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