Fokus-Land heute: Türkei
Ein Urteil, das die Pressefreiheit erdrosselt
Ankara, 27. November 2025 – Die Türkei, ein Land an der Schwelle zweier Kontinente, ringt einmal mehr mit dem Geist der Freiheit. In den letzten zwei Wochen dominierte ein Thema die Schlagzeilen, das tief in das Fundament der türkischen Demokratie eingreift: die zunehmende Repression gegen kritische Stimmen und die politische Opposition. Das jüngste und wohl schockierendste Ereignis war die Verurteilung des renommierten Journalisten Fatih Altaylı zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zwei Monaten am 26. November 2025. Sein Vergehen? Angeblich die „Bedrohung des Präsidenten“ in einem YouTube-Video, in dem er lediglich eine historische Parallele zog. Reporter ohne Grenzen (RSF) zeigte sich zutiefst erschüttert und konstatierte, die Lage für Journalisten sei so gefährlich wie seit den Gezi-Protesten 2013 nicht mehr.
Hintergründe einer schleichenden Erosion
Die Verurteilung Altaylıs ist kein Einzelfall, sondern ein weiteres, düsteres Kapitel in einer langen Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielen, kritische Berichterstattung und politische Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Seit Jahren konsolidiert die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ihre Macht. Die Justiz, einst ein Pfeiler der Republik, wird zunehmend als Instrument politischer Verfolgung wahrgenommen. Staatsanwaltschaften leiten „politisch motivierte“ Verfahren ein, selbst wenn keine Beweise für eine tatsächliche Bedrohung vorliegen, wie im Fall Altaylıs.
Diese Entwicklung ist Teil einer umfassenderen Strategie, die von vielen als Abkehr von demokratischen Prinzipien interpretiert wird. Die „Neue Türkei“, wie sie von der AKP propagiert wird, strebt zwar außenpolitisch eine strategische Autonomie und eine größere Rolle auf der Weltbühne an, doch im Inneren geht dies oft zulasten bürgerlicher Freiheiten.
Die Akteure und ihre Methoden
Im Zentrum dieser Entwicklung steht Präsident Erdoğan, dessen Regierung unnachgiebig gegen vermeintliche Feinde des Staates vorgeht. Neben Journalisten geraten auch oppositionsgeführte Kommunalverwaltungen ins Visier. So wurden erst am 20. und 22. November 2025 Ermittlungen gegen den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş von der größten Oppositionspartei CHP, und den ehemaligen Bürgermeister von Tunceli wegen angeblichen „Missbrauchs des öffentlichen Amtes“ genehmigt. Yavaş selbst sprach von „Doppelstandards“ und politischer Motivation.
Der bekannteste Fall ist jedoch der des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu. Er wurde bereits im März 2025 unter „fingierten Anschuldigungen“ verhaftet und seines Amtes enthoben. Neue Anklagen könnten ihn noch länger in Haft halten, wobei die Staatsanwaltschaft eine absurde Haftstrafe von über 2000 Jahren fordert.
Auch intellektuelle und kurdische Politiker sind betroffen. Osman Kavala, ein bekannter Kulturförderer, und Selahattin Demirtaş, ein prominenter kurdischer Oppositionspolitiker, sitzen seit Jahren in Haft, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ihre Freilassung forderte. Die Missachtung dieser Urteile führte sogar zu einem Vertragsverletzungsverfahren des Europarats gegen die Türkei. Gleichzeitig wurde der Sender Tele 1, einer der letzten oppositionellen Fernsehkanäle, bereits Ende Oktober geschlossen, und die Zensur im Internet nimmt neue Dimensionen an, indem selbst Exiljournalisten von Account-Sperrungen betroffen sind.
Die Stimmung im Land: Zwischen Resignation und Widerstand
Die Stimmung in der Türkei ist gespalten. Einerseits herrscht unter Journalisten und Kritikern eine spürbare Angst vor den Konsequenzen ihrer Arbeit. Die Türkei belegt auf der Rangliste der Pressefreiheit den alarmierenden Platz 159 von 180. Andererseits gibt es weiterhin Widerstand. Trotz des wachsenden Drucks versammeln sich Anhänger der Oppositionsparteien zu regierungskritischen Kundgebungen, wie im September 2025 in Ankara, um gegen die als zunehmend totalitär wahrgenommene Regierung zu protestieren.
Die internationale Gemeinschaft blickt mit Sorge auf diese Entwicklungen. Während Papst Leo XIV. Ende November 2025 die Türkei besuchte und die Rolle des Landes als Brücke zwischen Kulturen und Religionen betonte, überschatten die innenpolitischen Repressionen solche diplomatischen Gesten. Die Frage, die sich nun stellt, ist, wie lange die Türkei diesen Spagat zwischen geopolitischem Gewicht und der Erosion demokratischer Grundwerte noch aufrechterhalten kann, bevor die innere Zerrissenheit unüberwindbar wird.
Symbolbild: Pixabay / 20403914
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